Widersetze ich mich der gesellschaftlichen Verantwortung?

Kinder kriegen hat eine emotionale, aber auch eine politische und gesellschaftliche Komponente. Der Wirtschaftsmotor braucht neue Arbeitskräfte. Das Vorsorgesystem funktioniert nur mit Nachwuchs. Gleichzeitig kollabiert der Planet beinahe (oder bereits) unter der Last der vielen Menschen und ihren Emissionen. Ein Dilemma?

Zu viel oder zu wenig Menschen?

Vor meinem inneren Auge sehe ich noch ganz deutlich die exponentielle Kurve, die das Wachstum der Weltbevölkerung prognostiziert. An die weisse Wand des Schulzimmers projiziert mit einem Old-School-Hellraumprojektor. So einer mit Folienband, auf das man schreiben konnte. Ja, so alt bin ich schon 😉

Wir haben gelernt, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt. Man hat uns vorgerechnet, wie rasant die Gesamtbevölkerung ansteigt und was das für einen Einfluss auf den Planeten, auf dem wir leben, hat. 2022 haben wir die 8-Milliarden-Grenze geknackt. Doch das Wachstum scheint sich zu verlangsamen, die Prognosen sind heute nicht mehr ganz so krass wie zu meiner Schulzeit. Einer der Gründe ist, dass Frauen weniger Kinder kriegen. Am geburtenstärksten ist Afrika mit 4.6 Kindern – der weltweite Durchschnitt liegt bei 2.3 Kindern. In Europa sind es durchschnittlich 1.5 Kinder - 1960 lag dieser Schnitt noch bei 5 Kindern. Gründe für den Geburtenrückgang sind u. a. bessere Verhütungsmethoden und medizinische Versorgung sowie der höhere Wohlstand – man investiert mehr in weniger Kinder, beispielsweise in der Bildung. (Quelle der Zahlen: ardalpha.de)

Nun könnte man sagen – gut so, die Natur freut sich bestimmt über diese Entwicklung. Tut sie auch. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf Wachstum ausgelegt ist, weniger. Deshalb hört man heute, nicht mal 20 Jahre nach meinem Schulabschluss, statt «Hilfe, wir wachsen zu schnell»: 

OMG, es gibt keine Kinder mehr!

Wer zahlt meine AHV?

(Wie im Artikel Alleine altern versprochen…)

Auch so ein System, das abhängig ist von Kindern, ist die 1. Säule der Altersvorsorge in der Schweiz: die AHV. Sie basiert auf dem Solidaritätsprinzip der Generationen. Jüngere sparen für die Älteren. Wenn nun also halb so viele Kinder auf die Welt kommen, wie noch vor 60 Jahren, wer zahlt die AHV? Kinderfreie Personen wie ich lassen sich dann wie Schmarotzer*innen  von den Kindern anderer Eltern tragen im Alter… Wäre es nicht meine Pflicht als Mitglied der Gesellschaft, ein Kind – besser zwei – zu bekommen? Widersetze ich mich meiner gesellschaftlichen Verantwortung? 

Wenn ich das Ganze langfristig betrachte, komme ich nicht umhin, dem zu widersprechen. Nein, kein Kind von mir zahlt in die AHV ein. Aber das nicht existierende Kind muss auch im Alter nicht finanziert werden. Und es verbraucht auch keine natürlichen Ressourcen, was der Natur, dem Planeten und somit langfristig auch der Gesellschaft zugutekommt. 

Und wenn wir schon übers liebe Geld sprechen – kinderfreie Menschen finanzieren mit ihren Steuern Schulen, Kindergärten, Kitas, Spielplätze etc. mit. Natürlich tun wir das – nur weil wir keine Kinder haben, heisst das doch nicht, dass uns der Nachwuchs egal ist und wir die Wichtigkeit dieser Investitionen nicht sehen.

Schlussendlich gibt es noch dutzende weitere Bereiche im Leben, die so funktionieren. So funktioniert eine Gesellschaft. Man teilt einen Teil seines Geldes mit einer Gemeinschaft.  Ein Teil davon kommt zurück, ein Teil nicht. Dafür kommt dieser jemand anderem zugute. 

In der Bilanz zählt doch eigentlich, wie gut es uns als Gesellschaft als Ganzes geht.

Und ja, natürlich geht’s nicht ganz ohne Kinder. Würden alle so denken wie ich, ginge das System nicht auf. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir kinderfreien immer noch stark in der Minderheit sind…

Weiterführende Gedanken

Ich wäre nicht ich, wenn mir zu diesem Thema nicht noch ein paar provokative Gedanken kommen würden. 😉

Bei der ganzen Diskussion um zu wenige Kinder in der Schweiz und Europa frage ich mich: Gibt es vielleicht einfach zu wenige “europäische” Kinder? Denn der weltweite Durchschnitt liegt im grünen Bereich. Landesgrenzen sind den natürlichen Ressourcen schlussendlich piepegal. Und es ist erwiesen, dass gerade in der Schweiz die Zuwanderung enorm wichtig für die Wirtschaft ist – vielleicht müsste man zuerst die Zuwanderungs- und Integrationspolitik hinterfragen, bevor man Menschen hierzulande ein schlechtes Gewissen macht, dass sie zu wenig Kinder kriegen. 

Und noch eine etwas provokative Ansicht: Weniger Kinder bedeutet weniger Arbeitskräfte. Aber wie wärs, wenn man die Mütter besser in die Arbeitswelt integriert? Ich spreche von finanzierbaren Betreuungsangeboten, flexiblen Arbeitszeiten, besseren Möglichkeiten, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, Care Arbeit zu entlöhnen… Ja, da brodelt mein Feministinnenherz…

Eure Gedanken dazu würden mich sehr interessieren! Gerne auch Widersprechende. 😉 Ich diskutiere gerne!

 
Nadine

Seit 2019 bewusst kinderfrei und zufrieden mit der Entscheidung.

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Ohne leibliche Kinder, heisst nicht, ohne Kinder zu leben

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Wer Kinder haben will, sollte dafür gute Gründe haben